Tagung
Gewalt und Literatur: Vergleichende Betrachtungen türkisch- und deutschsprachiger Gegenwartsliteratur
Interdisziplinäre Tagung an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, 14 – 15. November 2025
Organisation: Prof. Dr. Petr Kucera und Dr. Anna-Lena Eick
Die geplante Veranstaltung widmet sich der vergleichenden Analyse von Gewaltdarstellungen in der deutsch- und türkischsprachigen Gegenwartsliteratur. Im Fokus stehen dabei Werke von deutschen und türkischen Autor:innen, die sich literarisch mit der sozio-kulturellen und gesellschaftlichen Situation in Deutschland und / oder der Türkei auseinandersetzen und dabei Themen der Gewalt – auf individueller wie kollektiver Ebene – literarisch verhandeln. Das von Johann Galtung entwickelte Konzept des „Gewaltdreiecks“ (vgl. Galtung Strukturelle Gewalt 1975) – aus direkter, struktureller und kultureller Gewalt – bietet hierfür Grundlage zur Analyse und identifizierender Benennung verschiedener Gewaltformen. Ergänzend lenkt die produktive Erweiterung des Galtung’schen Dreiecks um weitere Dimensionierungen von Gewalt wie zum Beispiel: Psychische Gewalt, Diskriminierung und Gewalt in den Medien (z.B. nach Helga Theunert) den Blick auch auf diejenigen Gewaltverhältnisse, „die in den gesellschaftlichen Strukturen verankert und nicht an konkrete handelnde Individuen gebunden sind“ (Theunert, 1987, 41). Die genannten Konzepte vorwiegend soziologischer Provenienz lassen sich auch auf Mechanismen der (narrativen) Repräsentation in Kunst und Literatur übertragen und stützen so die angestrebte literaturwissenschaftliche Betrachtung der Verhandlung von Gewaltphänomenen im deutsch-türkischen Kontext.
Im Zentrum der Tagung stehen gegenwartsliterarische Werke deutscher, deutsch-türkischer und türkischer Autor:innen, die in den letzten 20 Jahren publiziert wurden (ca. 2005 – 2025) und Aspekte von Gewalt, Identität und Zugehörigkeit (mitunter aus postmigrantischer Perspektive) thematisieren. Ziel der Tagung ist es, die spezifischen narrativen Strategien und thematischen Schwerpunkte herauszuarbeiten, mit denen verschiedene Formen von Gewalt dargestellt und reflektiert werden und einen möglichen Zusammenhang zwischen zunehmend exzessiver (literarischer) Gewaltdarstellung und Genrezuschreibung (wie im Falle der türkischen „Underground“ oder Yeraltı-Literatur, (vgl. Fethi Demir Yeraltı Edebiyatı 2023) nachzuzeichnen. Dabei sollen insbesondere die transkulturellen Aspekte berücksichtigt werden, die sich mitunter aus der konkreten Verschränkung deutscher und türkischer Perspektiven oder vor dem Hintergrund der jeweiligen sozio-kulturellen Gemengelagen ergeben.
Dadurch kann u.a. die Frage in den Blick genommen werden, wie Gewalt als Ausdruck kultureller und sozialer Ver(un)sicherung literarisch thematisiert und verhandelt wird. Ein weiterer Fokus liegt auf der Untersuchung konkreter ästhetisch-literarischer Strategien, die angewendet werden, um gesellschaftliche Missstände, individuelle wie kollektive Ungleichheiten und ganz grundlegend die daraus resultierende Zunahme an ‚Wut‘ und Gewalt in der Gegenwartsliteratur zu thematisieren. So exploriert beispielsweise Deniz Utlu in seinem Debütroman Die Ungehaltenen (2014) die teils ungerichtete Frustration und mitunter verzweifelte Wut junger Menschen mit Migrationshintergrund in Auseinandersetzung mit der Herkunft der migrierten Elterngeneration, während Fatma Aydemir in Ellbogen (2018) die zunehmend und ultimativ eskalierende Gewaltspirale einer jungen Deutsch-Türkin nachzeichnet, die infolge ihrer Tat (bezeichnenderweise) von Deutschland aus in die Türkei flieht. In einen dialogischen Vergleich dazu sollen Werke der türkischen Gegenwartsliteratur gesetzt werden, wie z.B. Flucht (Daha, 2013) von Hakan Günday, ein Roman, der sich schonungslos mit der Gewalt gegen (und unter) Flüchtlinge(n) auseinandersetzt. Dabei sind die Ursachen der Gewalttaten nicht ausschließlich in den dunklen Ecken der menschlichen Psyche oder in konkreten Institutionen und Strukturen wie der hierarchischen Ordnung der Gesellschaft, dem repressiven Staatsapparat oder patriarchalen Machtstrukturen zu suchen, sondern scheinen sich bezeichnenderweise kapillar durch alle Ebenen der Gesellschaft zu ziehen.
Folgende Fragestellungen können als Anregung für einen produktiven Dialog zwischen deutschsprachiger Gegenwartsliteratur mit thematischem Bezug zum (deutsch-)türkischen Kontext dienen (ohne Anspruch auf Vollständigkeit):
- Wie wird Gewalt (und als auslösende Emotionen u.a. Angst und Wut) in der deutsch- und türkischsprachigen Gegenwartsliteratur dargestellt und reflektiert?
- Welche transkulturellen Aspekte ergeben sich aus der Verschränkung deutscher und türkischer Perspektiven in Bezug auf Gewaltdarstellungen?
- Wie wird Gewalt als Ausdruck kultureller und sozialer Ver(un)sicherung literarisch thematisiert?
- Wie setzen die Autor:innen Gewalt narrativ um, um gesellschaftliche Missstände und Ungleichheiten zu thematisieren?
- Welcher Zusammenhang besteht zwischen exzessiver Gewaltdarstellung und der Genrezuschreibung? Bezeichnenderweise werden gerade deutschsprachige Werke, die ins Türkische übersetztet wurden (wie z.B. im Fall von Deniz Utlu) im türkischen akademischen Diskurs als „Underground-Literatur“ klassifiziert.
- Welche Dynamik ergibt sich, wenn man türkischsprachige Underground-Literatur (z.B. Günday) mit den ebenfalls als solche klassifizierten, deutschsprachigen Werken vergleicht? Welche Gemeinsamkeiten / Unterschiede können herausgestellt werden?
- Wie werden aktuelle gesellschaftliche Diskurse wie Rassismus, staatliche Kontrolle und Machtmissbrauch anhand gegenwartsliterarischer Texte im deutsch-türkischen Kontext reflektiert?
Abgerundet wird die Tagung durch eine Autorinnen-Lesung mit Anna Yeliz Schentke, die aus ihrem 2022 erschienenen Roman Kangal lesen wird.
Ausgewählte Beiträge werden im Anschluss an die Tagung als Sonderheft der Fachzeitschrift Diyâr. Zeitschrift für Osmanistik, Türkei- und Nahostforschung / Journal of Ottoman, Turkish and Middle Eastern Studies (Ergon-Verlag) (peer-reviewed) publiziert.
Wir begrüßen innovative, theoretisch untermauerte Beiträge aus der (deutschen wie türkischen) Literatur- und Kulturwissenschaft auf Deutsch oder Englisch. Die Präsentationen sollen nicht länger als 20-Minuten sein, damit ausreichend Zeit für Diskussion und Austausch bleibt. Bei Interesse bitten wir um die Einsendung eines Abstracts (max. 450 Wörter) und eines kurzen Lebenslaufs mit biobibliographischen Angaben und ausgewählten Publikationen bis zum 30. April 2025 an: pekucera@uni-mainz.de und aeick@uni-mainz.de. Beitragsvorschläge von interessierten Nachwuchswissenschaftler:innen sind ausdrücklich erbeten!
Über die Auswahl der Tagungsbeiträge wird im Mai 2025 entschieden.